Wenn alles zu viel wird: Neurotizismus, Empörung und individueller Umgang mit politischen Krisen

Wir leben in einer Zeit vielfältiger Krisen und Umbrüche. Politische Spaltungen, Kriege, Klimawandel – wer regelmäßig Nachrichten konsumiert, kommt kaum noch zur Ruhe. Doch nicht alle Menschen reagieren gleich auf diese Dauerbelastung aus Brüchen, Brüchigkeiten und tiefgreifendem Wandel.

Ein Persönlichkeitsmerkmal, das in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt, ist Neurotizismus. Im Rahmen unseres Myself at Work-Persönlichkeitsprofils bezeichnen wir diese Big-Five-Dimension der Persönlichkeit „Sensibilität–Stabilität“. Nicht zuletzt deshalb, weil die Ausprägungen bzw. Pole dieser Dimension ihre eigene Bedeutung und Funktion haben – keine Seite ist per se „besser“ als die andere.

Was Sensibilität bedeutet – und warum sie gerade in Krisen spürbar wird

Eine ausgeprägte Sensibilität – also eine hohe Ausprägung von Neurotizismus – beschreibt die Tendenz, negative Emotionen wie Angst, Unsicherheit oder Wut intensiver und häufiger zu erleben als emotional stabilere Personen. Menschen mit hoher Sensibilität haben einen stärkeren Zugang zu diesen Emotionen, reagieren empfindlicher auf Stress und nehmen Bedrohungen schneller wahr. Sie neigen dazu, Ereignisse emotional zu überhöhen – auch dann, wenn deren objektive Bedrohlichkeit gering ist.

In Zeiten ständiger gesellschaftlicher Spannungen wird diese Persönlichkeitsausprägung besonders sichtbar – durch Rückzug, Empörung oder das Gefühl dauerhafter Überforderung. So konnten während Covid bei vielen Menschen Vereinsamungsgefühle, eine hohe Verunsicherung aber auch die Suche nach einfachen Erklärungen intensiv beobachtet werden.

Empörung: Schutzmechanismus für die Seele

Empörung ist mehr als bloße Meinungsäußerung. Sie ist oft ein emotionaler Reflex auf Kontrollverlust. Wer sich ohnmächtig fühlt, reagiert mit Abwehr – laut oder leise. Menschen mit hoher Sensibilität erleben diesen Kontrollverlust intensiver. Das kann sich in impulsiven oder übersteigerten Reaktionen äußern. Sensible Personen reagieren in belastenden Situationen häufiger emotional statt rational – sei es durch hitzige Kommentare, emotionale Rückzüge oder dauerhafte Empörungsbereitschaft.

Die Filterblase wirkt doppelt: Menschen konsumieren Medien oftmals selektiv – und sensible Menschen oft solche, die ihre Ängste bestätigen. Negative Schlagzeilen, moralische Empörung, Krisenrhetorik – all das verstärkt den Eindruck, dass „alles schlimmer wird“. So entsteht ein Teufelskreis: Das eigene negativ-emotionale Empfinden wird durch ständige Bestätigung von außen weiter angeheizt.

Angst als politisches Werkzeug: Wie Populisten gezielt emotionale Reizbarkeit nutzen

Gerade politische Akteure im populistischen oder antidemokratischen Spektrum arbeiten gezielt mit dem Mittel der Angst. Ihr Kalkül: Verunsicherte Menschen sind für einfache Antworten empfänglicher. Sie verstärken Unsicherheitsgefühle, erzeugen gezielt Bedrohungsszenarien und inszenieren sich als vermeintlich einzig glaubwürdige Retter.

Typische Mechanismen der Angsterzeugung:

  • Übertreibung oder Dramatisierung von Krisen (z. B. Migration, Inflation, Energie)
  • Dauerhafte Bedrohungssprache („Systemzerfall“, „Diktatur der Eliten“, „Zukunftsangst“)
  • Inszenierung von Kontrolle („Nur wir können euch schützen“)

Diese Erzählmuster wirken, weil sie ein psychologisches Grundbedürfnis ansprechen: Das Bedürfnis nach Sicherheit. Menschen mit hoher emotionaler Reaktivität empfinden in solchen Narrativen eher eine Bestätigung, dass „etwas ganz Grundsätzliches nicht mehr stimmt“. Die Empörung ist dann nicht mehr nur inhaltlich, sondern tief emotional verwurzelt – und damit besonders schwer zu entkräften. Wenn Politiker sagen „Wir müssen die Bedenken der Bevölkerung ernst nehmen.“ so beziehen sie sich nicht selten auf negative Emotionen, die vorher bewusst verstärkt wurden und danach verallgemeinert und als Rechtfertigung dienen der eigenen Agenda zu folgen.  Es lohnt dann stets zweimal hinzuhören und den Austausch mit kühlen Köpfen zu suchen.

Der Missbrauch emotionaler Verletzlichkeit

Dieses Vorgehen ist mehr als problematisch – es ist gezielte Instrumentalisierung menschlicher Verletzlichkeit. Neurotizismus ist kein pathologisches Merkmal. Es beschreibt ein Spektrum emotionaler Sensibilität, das in vielen Kontexten – etwa bei Gesundheitsvorsorge, Empathie oder Früherkennung von Risiken – ausgesprochen hilfreich ist.

Wer diese Sensibilität systematisch gegen die Betroffenen wendet, trägt zur emotionalen Eskalation und zur Aushöhlung demokratischer Diskurse bei. Populisten zielen nicht auf Dialog, sondern auf Emotionalisierung ohne Lösung – weil Angst bindet, auch wenn sie keine realistische Grundlage hat.

Menschen mit hoher Stabilität können etwas beitragen

Menschen mit niedriger Neurotizismus-Ausprägung – also hoher emotionaler Stabilität – erleben politische Krisen oft mit mehr innerer Distanz. Sie bleiben ruhiger, handeln reflektierter und sind seltener impulsiv empört. Gerade in aufgeheizten Zeiten kann diese Stabilität ein wichtiger Beitrag sein:

  • Sie helfen, Debatten zu versachlichen, ohne emotionale Reaktionen zu entwerten.
  • Sie können als Stabilisatoren im sozialen Umfeld wirken – durch Zuhören und Perspektivwechsel, aber auch durch Humor und Ironie.
  • In politischen Bewegungen oder Aktivismus-Kontexten bringen sie häufig die nötige Ausdauer und Nüchternheit mit, um langfristige Lösungen mitzugestalten – jenseits von emotionaler Überhitzung.

Die Gelassenheit von Menschen mit hoher Stabilität kann leicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden – oder dazu führen, dass sie emotionale Signale übersehen. Um so wichtiger ist es, dass auch emotional sehr stabile Menschen lernen, die emotional negativen Reaktionen anderer nachzuvollziehen, selbst wenn sie diese nicht teilen.

Mit hoher Sensibilität besser umgehen: Drei Kniffe

Selbstreflexion stärken. Wer weiß, dass er auf Krisen besonders sensibel reagiert, kann lernen, den ersten Impuls nicht sofort in Aktion zu übersetzen. Eine kurze Pause – innerlich oder digital – wirkt oft stabilisierend. Sich bewusst zu machen, dass „der Film im Kopf“ häufig mehr über einen selbst aussagt als über die Realität , ist der erste Schritt hin zur emotionalen Selbstregulation.

Medienhygiene üben. Die bewusste Auswahl von Quellen, Formaten und Dosis politischer Informationen schützt vor Reizüberflutung. Besonders sensible Menschen profitieren davon, Medien zu meiden, die auf maximale Emotionalisierung setzen.

Emotionale Manipulation erkennen. Wer Ängste schürt, Differenzierung verweigert und Misstrauen sät, will nicht aufklären – sondern lenken. Menschen mit sensibler Wahrnehmung können lernen, genau diese Mechanismen zu erkennen – und sich innerlich davon abzugrenzen. Sensibilität bedeutet nicht Schwäche, sondern oft Frühwarnkompetenz. Diese Fähigkeit kann geschult und bewusst eingesetzt werden. Und manchmal hilft ees auch die Frage in den Raum zu stellen: „Vielleicht ist es ja ganz einfach andersherum? “ und sich erstmal über offensichtliche Schwarzmalerei zu amüsieren.

Fazit: Nur wenige sind immun gegen die Instrumentalisierung ihrer eigenen Empörung

Emotionale Reaktionen auf politische Krisen sind kein Zeichen von Schwäche – sondern oftmals Ausdruck eines Persönlichkeitsmusters. Menschen mit hoher Sensibilität spüren gesellschaftliche Spannungen intensiver. In einer Welt multipler Krisen ist das kein Randthema – sondern psychologisch und gesellschaftlich relevant.

Neurotizismus betrifft viele – nicht nur „die anderen“. Wie alle Big-Five-Merkmale verteilt sich auch dieses in Form einer Normalverteilung. Nur wenige Menschen sind dauerhaft dominant stabil oder dominant sensibel. Die meisten von uns bewegen sich im mittleren Bereich – mit Elementen von beidem in sich: Gelassenheit und Verletzlichkeit.

Wir alle kennen Situationen, in denen wir emotional überreagieren – und andere, in denen wir souverän bleiben. Diese Spannbreite ist normal. Entscheidend ist nicht, ob wir sensibel sind – sondern, ob wir verstehen, wann und warum. Wer dies erkennt, kann besser mit sich und anderen umgehen. Reflexion über die eigenen Reaktionsweisen ersetzt Stabilität nicht – sie erzeugt Stabilität.

Takeaways zum Neurotizismus

  • Neurotizismus ist kein Makel, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, das mit einer höheren Sensibilität für Unsicherheit und Bedrohung einhergeht.
  • In politischen Krisenzeiten führt diese Sensibilität häufiger zu Empörung, Überforderung oder Rückzug – nicht aus Irrationalität, sondern aus emotionaler Belastung heraus.
  • Populistische Kräfte nutzen diese Reizlage gezielt, um Ängste zu verstärken und einfache Deutungsmuster zu platzieren.
  • Menschen mit niedrigem Neurotizismus nehmen Krisen oft mit mehr innerer Distanz wahr. Emotionale Missbrauchsversuche verfangen bei ihnen nur wenig.

Über Myself at Work

Mit seinem über 30-seitigen, für alle Nutzenden verständlich aufbereiteten Report bietet das Myself at Work-Persönlichkeitsprofil ein differenziertes Angebot dazu, eigene Persönlichkeitsmuster bewusster zu verstehen, diese Muster zu reflektieren und eigene Selbstwirksamkeit zu stärken. Das ist für die Arbeitswelt ebenso nützlich wie für das Privatleben und den zivilgesellschaftlichen Umgang. Myself at Work verwendet das anerkannte Big Five-Modell der Persönlichkeitsforschung.

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